20. August 2017 – Erwitte und Anröchte

20.08.17 – Lukas 19, 41-48

Jesus weint über Jerusalem

Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie

(42)und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist’s vor deinen Augen verborgen.

(43)Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen,

(44)und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.

(45)Und er ging in den Tempel und fing an, die Händler auszutreiben,

(46)und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben (Jesaja 56,7): »Mein Haus soll ein Bethaus sein«; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht.

(47)Und er lehrte täglich im Tempel. Aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Angesehensten des Volkes trachteten danach, daß sie ihn umbrächten,

(48)und fanden nicht, wie sie es machen sollten; denn das ganze Volk hing ihm an und hörte ihn.

Liebe Gemeinde,

Jesus weint über Jerusalem. Und anschließend haut er ordentlich dazwischen und räumt mal so richtig auf. 2000 Jahre her. Und mit dem Blick von heute möchte man es ihm manchmal gleich tun. Das eine wie das andere.

Denn wenn es so etwas gibt wie ein Urbild von einer Stadt, exemplarisch auch für das Schicksal der Menschen, für ihr Auf und Ab des Lebens, aber auch für ihre Unfähigkeit, den Frieden und das Paradies zurückzugewinnen oder zurückzufinden, dann ist das Jerusalem. Zankapfel der Menschen, der Reiche und der Religionen seit … ja, wie lange eigentlich schon.

Dabei, wenn man diese Stadt das erste Mal erlebt und sieht, dann kann man sich das kaum vorstellen. Denn wenn man von Osten Richtung Jerusalem kommt und dann den letzten Hügel überquert hat, dann hält man den Atem an. Da bietet sich quer über Ölberg und Kidrontal ein Ausblick auf Jerusalem, der – und nicht nur in der Abendsonne – der ist unbeschreiblich. Die hochgebaute Stadt mit ihren Stadtmauern, die glänzende Kuppel des Felsendoms, das imposante Bauwerk der Al-Aqusa-Moschee, die vielen Kirchtürme, einfach unbeschreiblich. Unbeschreiblich schön. Das ist wirklich zum Heulen schön. Auch für die Seele, und mit Worten eigentlich gar nicht wiederzugeben. Das muss man mit eigenen Augen gesehen haben. Und wenn Sie die Gelegenheit haben, da noch mal hinzukommen, machen Sie´s.

Heute steht dort übrigens, fast genau an dieser Stelle mit Blick auf Jerusalem eine Kapelle mit dem lateinischen Namen „Dominus flevit“, zu Deutsch „Der Herr weint“. Und das hat mit „Zum Heulen schön“ nun leider und wirklich gar nichts mehr zu tun. Ganz im Gegenteil. Denn da sind wir mitten drin im Predigttext. Jesus weint über Jerusalem. Und das zum einen ganz sicher aus Trauer über all das Unverständnis, all die Feindschaft und all die Angriffe bis hin auf sein Leben, die er jetzt schon ahnt – und dann auch erleben wird. Und –auch das gehört hierher – auch mitten drin im Antisemitismus, der sich ja nur zu gern einer Stelle wie dieser bedient hat, wenn es darum ging, die Juden als Antichristen zu brandmarken.

Und, kleiner Exkurs im Jubiläumsjahr der Reformation: Martin Luther war alles andere als frei davon. Ziemlich selbstbewusst bis überheblich, wie ich finde. Denn dass die Juden damals keine Katholiken werden wollten, das war ihm ja auch klar. Er wollte diese damalige Katholische Kirche ja auch nicht. Aber dass sie dann seine Lehre, diese wunderbare reformatorische Lehre und später auch Kirche verschmähten oder ablehnten, keine Christen wurden, das passte ihm nicht. Das konnte er gar nicht verstehen. Und das kränkte ihn wohl auch in seiner Eitelkeit. Seine Reaktion war heftig, selbst die Nazis haben sich auf ihn berufen. Und auch 2017 sollte man das nicht unter den Teppich kehren. Aber Ende des Exkurses und zurück zum Text.

Jesus weint über Jerusalem. Und wenn ich vorhin gesagt habe, das war die Trauer über seine Situation damals, dann ist das das Eine. Zum anderen aber denke und glaube ich, das war ein wahrhaft prophetisches Weinen. Über eine Stadt, deren Zerrissenheit politisch wie religiös exemplarisch ist. Mit Auswirkungen aber oft genug weit über die Stadt und ihre Menschen hinaus. Wie anfangs gesagt: das Urbild einer Stadt in einer noch lange nicht erlösten Welt.

Es ist aber auch schwierig mit Jerusalem. Schon allein politisch und mit der Frage, wer da Anspruch auf diese Stadt hat. Oder Rechte. Oder gar die älteren Rechte.

Ursprünglich hieß die Stadt wohl Jebus, von den Jebusitern bewohnt. Eine Insel innerhalb der 12 Stämme Israels, die das ganze andere Land dort ringsum besiedelten. Um das Jahr 1000 v. Chr. eroberte König David diesen Stadtstaat und machte Jerusalem – die Davidstadt oder die Stadt des Friedens, wie sie ja trotz allem genannt wird – zur Hauptstadt. Mehr als geschickt. Denn zum einen war nun das Staatsgebiet abgerundet, zum zweiten gab es eine Hauptstadt, und zum dritten war dadurch keiner der 12 Stämme besonders herausgehoben. Sein Sohn Salomo verstärkte das dann noch, indem er den Tempel bauen ließ, das bis heute einzig wirkliche Heiligtum der Juden, und indem er die Bundeslade, also die Tafeln mit den 10 Geboten vom Sinai, die Gründungsurkunde, die Verfassung Israels, in den Tempel bringen ließ. Und auch, wenn nach der babylonischen Gefangenschaft (586 – 538) alles wieder aufgebaut werden musste und Israel seine Eigenständigkeit immer weiter an die Großmächte verlor, das blieb so bis zum Jahr 70 n. Chr.. Da hatten die Römer von diesem kleinen aufmüpfigen Volk die Nase voll, Jerusalem und der Tempel wurden zerstört, das Volk verjagt und in die ganze Welt verstreut.

Danach herrschten die Römer, vom 4. Jahrhundert an auch als Christen, die dort auch Kirchen bauten. Vom 7. Jahrhundert an waren dann dort die Araber an der Macht und dann eben auch als Muslime, im Mittelalter trieben die Kreuzfahrer dort ihr Unwesen, bis sie von Saladin und anderen Herrschern vertrieben wurden, dann war es Teil des Osmanischen Reiches, bis es ab 1917 Britisches Mandat wurde. Palästina.

Und Palästinenser. Derselbe Wortstamm übrigens wie Philister. Mit denen David sich schon bekriegte. Und da ahnt man, wie lange der politische Konflikt auch schwelt. Und was da seit 1948, seit Gründung des Staates Israel, und seit der Eroberung Jerusalems und des Westjordanlandes durch Israel los ist, das brauche ich auch nicht zu schildern. Wir alle haben die letzten Bilder von den Auseinandersetzungen um den Tempelberg noch vor Augen. Grund genug zum Weinen über Jerusalem und das über 2000 Jahre.

Womit wir bei religiösen Dimension sind. Und dass man die Macht der Religion und insbesondere da nicht unterschätzen soll, das muss ich nicht betonen.

Der jüdische Anspruch ist klar. Auch wenn vom Tempel nur noch eine Mauer übrig geblieben ist, diese Klagemauer ist der zentrale Ort des Judentums. Das Heiligtum an sich, der Ort, der einzige, Gott wirklich nahe zu kommen. Und Jerusalem ist und bleibt für sie immer noch Davidstadt. Seit 3000 Jahren.

Die Klagemauer stützt den Tempelberg ab. Und da drauf stehen die Al Aqusa Moschee und der Felsendom, neben der Kaaba in Mekka die zentralen Orte der Muslime. So soll der Prophet Mohammed dort sein Pferd angebunden haben, als er in den Himmel entrückt wurde. Und dort, wenn ich es richtig weiß, eine göttliche Offenbarung und den Koran bzw. Teile davon empfangen hat. Im Felsendom gibt es in einer kleinen Nische einen Spalt in der Mauer, man kann seine Hand hineinlegen und fühlt dann den Hufabdruck seines Pferdes. Wenn man die Hand wieder rauszieht, duftet sie dann übrigens nach Rosen. Aber selbst die meisten Muslime behaupten nicht, dass das immer noch auf Mohammed zurückgeht. Da wird täglich mit Rosenwasser nachgeholfen. Nur, das ist nach jüdischer Überlieferung wieder dieselbe Stelle, an der Abraham Isaak opfern sollte. Was beiden dann ja erspart blieb.

Ja, und außer auf dem Tempelberg überall die Stätten und Kirchen der christlichen Erinnerung. Meist mitten in der ehemals und immer noch muslimischen Altstadt.

Oder noch eine andere Sache. Nach jüdischer Erwartung soll der Messias wiederkehren, nach christlicher Erwartung wird Jesus wiederkommen, auch als Messias. Um dann, wenn er kommt, Gottes Reich endgültig aufzurichten. Und, er soll oder wird von Osten kommen und von dort nach Jerusalem einziehen. Die Muslime haben darum, obwohl sie ja eigentlich oder ganz bestimmt gar nicht dran glauben, zu Zeiten ihrer Herrschaft das nach Osten gehende Stadttor zugemauert. Und davor haben sie einen Friedhof angelegt. Und der Messias, da ihnen ja die Totenruhe heilig ist, der wird dann doch nicht wagen, über diese Gräber zu gehen. Um dann vor einem zugemauerten Tor nicht weiter zu kommen. Also kann er nicht kommen. Aber ob das der Messias weiß? Das fördert nicht das Miteinander der Religionen.

Die sich untereinander auch nicht grün sind. Weder orthodoxe und liberale Juden noch die Christen. Letztes Beispiel: In der Grabeskirche Jesu da gibt es an Karfreitag einen haargenauen Plan, welche christliche Konfession zu welchem Zeitpunkt und wie lange am Grab Jesu beten darf. Und wehe, diese Zeit wird nicht eingehalten. Dann prügeln sich da Mönche, Priester, Nonnen und andere Fromme, am Karfreitag, wenn es sein muss schlagen die mit den Kruzifixen aufeinander ein. Nicht erfunden.

Alles zusammen, wie unter einer Lupe und exemplarisch der Zustand unserer Welt und der Religionen. In Jerusalem auf kleinstem Raum fokussiert Und lange nicht mehr auf Jerusalem beschränkt. Wie eine Krake überzieht das mittlerweile die Welt. Barcelona und Turku die letzten Orte in einer viel zu langen Reihe.

Als ob er es damals schon geahnt hätte: „Dominus flevit“, der Herr weint. Ja, es ist zum Heulen. Über Jerusalem und die Menschen. Man könnte es ihm gleich tun. Mit dem Weinen.

Ja, natürlich. Denn eine Welt ohne Anteilnahme, das ist weder die Welt der Juden noch die der Muslime noch die der Christen. Aber es ihm gleich tun auch mit dem Dazwischenhauen?

Nein, selbst wenn Jesus im Tempel ordentlich aufgeräumt hat. Aber das war im Tempel. Und ich glaube, das ist nicht seine Vorgabe für das Handeln in der Welt. Auch wenn manche Leute mit zu langer roter Krawatte sich da in ihrer Wortwahl mehr als nur vergreifen.

Und darum doch lieber im Sinne Jesu immer wieder den Appell an die Klugheit und Besonnenheit wagen. Und da gibt es meines Wissens nichts Besseres als die Ringparabel von Lessing aus „Nathan der Weise“. Ein Stück, das auch noch in Jerusalem spielt.

In der Schlüsselszene lässt der Machthaber Saladin Nathan zu sich rufen und legt ihm die Frage vor, welche der drei monotheistischen Religionen er für die wahre halte. Nathan sieht sich vor dem Konflikt, weder seine Religion zu sehr zu betonen, noch die anderen beiden. Deshalb antwortet er mit einem Gleichnis. Darin besitzt ein Mann ein wertvolles Familienerbstück: einen Ring, der über die Eigenschaft verfügt, seinen Träger „vor Gott und den Menschen angenehm“ zu machen, wenn derselbige Träger ihn „in dieser Zuversicht trug“ . Dieser Ring wurde über viele Generationen hinweg vom Vater an jenen Sohn vererbt, den der Vater am meisten liebte. Doch nun tritt der Fall ein, dass der Vater drei Söhne hat und von ihnen keinen bevorzugen kann und möchte, sodass er von einem Goldschmied Duplikate des Ringes herstellen lässt. Er hinterlässt jedem Sohn einen Ring, wobei er jedem versichert, sein Ring sei der echte. Nach dem Tode des Vaters ziehen die Söhne vor Gericht, um klären zu lassen, welcher von den drei Ringen der echte sei. Der Richter aber ist außerstande, dies zu ermitteln. So erinnert er die drei Männer daran, dass der echte Ring die Eigenschaft habe, den Träger bei allen anderen Menschen beliebt zu machen; wenn aber dieser Effekt bei keinem der drei eingetreten sei, dann könne das wohl nur heißen, dass der echte Ring verloren gegangen sein müsse. Jedenfalls solle ein jeder von ihnen trachten, die Liebe aller seiner Mitmenschen zu verdienen; wenn dies einem von ihnen gelinge, so sei er der Träger des echten Ringes.

Man nennt das heute Kernkompetenz. Gott die Ehre zu geben und so die Liebe aller seiner Mitmenschen zu verdienen.

Und wenn das das Ziel wäre, auf das die Religionen sich verständigen könnten, und sie nur danach strebten, dann wären all die Tränen vielleicht doch nicht umsonst geweint.

Amen